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Wie will ich Leben, wenn ich alt bin - eine Altersreise mit Dr. Henning Scherf

Im Landratsamt war der Sitzungsaal des Kreistags außergewöhnlich voll besetzt. Auch drei Mitglieder unseres GRÜNEN Ortsverbandes waren ins Landratsamt gekommen.  „Wie will ich leben, wenn ich alt bin? – eine Altersreise mit Dr. Henning Scherf“, lautete der Titel des Vortragsabends am 10. Januar 2017. „Es ist nie zu früh, darüber nachzudenken, wie wir im Alter leben wollen“, lässt der 1938 geborene Referent, Hennig Scherf, die rund 200 Zuhörer wissen.

Scherf, der in Bremen von 1995 bis 2005 das Amt des Bürgermeister inne hatte, war erst wenig älter als 40, als er und seine Frau die Altersplanung aktiv in Angriff nahmen. Die drei Kinder des Paares hatten zu diesem Zeitpunkt das Elternhaus bereits verlassen und ein neues Lebenskapitel konnte eröffnet werden. Gemeinsam mit Gleichgesinnten, die Scherf seine „Wahlfamilie“ nennt, gründete er 1987 in der Bremer Innenstadt die wohl bekannteste und älteste Senioren-Wohngemeinschaft. Scherf zieht die Anwesenden im Landratsamt mit lebendigen Schilderungen in seinen Bann und zeigt auf, worauf es ankommt bei der Planung von Senioren-WGs ankommt.

„Da wo Sie wohnen, da wo Ihre Freunde leben, da wo Sie Zuhause sind und wo es gewachsene Dorf- oder Stadtstrukturen gibt, genau da ist der beste Standort für Ihr Wohnprojekt“, so Scherf. Wichtiger als die Frage, wo das gemeinsame Haus stehen soll, sei die Initiativ-Frage „Wer macht mit? Mit wem will ich wohnen?“ Es brauche einen Austausch darüber, was der jeweils andere will, welche Bedürfnisse, Vorstellungen und Wünsche jeder hat und welche Erwartungen vom Leben unter einem Dach existieren. So wie Familienregeln könnten auch die Regeln des Zusammenlebens in einem Mehrgenerationenhaus nicht über Paragraphen geregelt werden. Statt Regel brauche es viel Kommunikation. Scherf erzählt: „Wir in Bremen waren zehn Leute. Wir haben uns zusammengetan, ausgetauscht und beschlossen, eine Wohngemeinschaft für Menschen im Alter von 50 Plus zu gründen. Wir wollten gemeinsam unter einem Dach, aber in größtmöglicher Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Unabhängigkeit von externer Hilfe leben. Das war die Vision, die uns antrieb.“ Die Gruppe suchte ein geeignetes Grundstück, mittendrin in der Stadt, wo alles zu Fuß erreichbar ist. In einem alten Gebäude bzw. Spekulationsobjekt verwirklichten sie ihre Wohnträume. Aus Platzmangel einigten sich die Gründer darauf, zugunsten von 6 komplett ausgebauten Mehrzimmerwohnungen auf Gemeinschaftsräume zu verzichten.

Seit 30 Jahren lebt der Referent nun schon im damals aufgebauten Wohnprojekt. Heute leben dort 12 Menschen im Altern von 1 ½ bis 83 Jahren, darunter unter anderem sechs Rentner und eine alleinerziehende Frau aus Nigeria mit ihren drei Kindern. Trotz fehlender Gemeinschaftsräume gibt es unter dem gemeinsamen Dach eine reges Gemeinschaftsleben. Scherf wird konkret: „Wir setzen uns zusammen, reden und stimmen alles einstimmig ab. Anfangs hatten wir noch 6 Autos, jetzt kommen wir alle zusammen mit einem Auto aus. Wir sprechen uns z.B. ab, wer wann das Auto für Einkaufsfahrten oder andere Fahrten braucht und nutzen ansonsten die öffentlichen Verkehrsmittel. Wir unterstützten uns gegenseitig, da wo es gewünscht wird und nötig ist. Zwei Jahre nach dem Start der WG bestanden wir die erste Nagelprobe. Eine Mitbewohnerin erkrankte schwer. Den Wunsch, bei uns im Haus zu sterben, konnten wir ihr erfüllen.“ Auch Scherf, damals noch amtierender Bürgermeister, beteiligte sich an den notwendigen Nachtwachen. Aus einer bunten Truppe von engagierten, begeisterungs- und begegnungsfähigen Leuten, sei eine offene und herzliche Gemeinschaft entstanden, in der man sich auch da gemeinsam trage, wo mal was schief gehe.

Scherf spricht frei, ohne Redemanuskript und fordert die Zuhörer immer wieder auf, sich mitzuteilen und Fragen zu stellen. Den demografischen Wandel betrachtet der sehr wache Zeitgenosse als gesellschaftliche Herausforderung und Aufgabe. „Wir leben heute in einer Zeit, die so noch nie dagewesen ist. Die Menschen werden immer älter. Jedes zweite der heute lebenden Mädchen, wird voraussichtlich 100 werden. Das Bild von den Alten hat sich stark verändert“ so der Referent. „Oh Gott, wohin mit den Alten“ hieß es früher. Heute hätten auch Wissenschaftler einen ganz anderen Blick. Sie sprächen von den Chancen, Ressourcen und Stärken des Alters. Das halbvolle Glas zu betrachten, sei sinnvoller, als sich das halbleere Glas vor Augen zu führen. Es sei besser sich zu fragen „Was kann ich noch machen?“, statt „Was kann ich nicht mehr?“ Dafür wirbt Scherf auch in Schweinfurt und erinnert daran, dass viele alte Menschen noch ungeahnte Kräfte entwickeln, beim Sport, beim Singen im Chor, im Umgang mit Kindern oder Tieren… .

„Mehrgenerationsstrukturen sind lebenserhaltend und anregend. Man rückt enger zusammen und fühlt sich nicht allein“, erklärt der Referent und skizziert dann die Lebenssituation von vielen alten Menschen in unserem Land. Viele lebten in Altenheimen, die nur noch einen sehr geringen individuell gestaltbaren Lebensraum bieten. Oftmals wohnten alte Menschen auch ganz allein in einer Wohnung oder einem Haus, geplagt von der Einsamkeit und von der Angst vor Einbrechern. Scherf hält ein mitreißendes Plädoyer für ein selbstbestimmtes Wohnen im Alter und stellt nicht nur sein Wohnprojekt in Bremen, sondern noch viele andere Projekte in der Bundesrepublik vor, die so unterschiedlich sind wie die, die sie initiert haben. Scherf ist herumgekommen im Land. Er hat viele Wohnprojekte besucht und deren Entstehung und Wirkung genau betrachtet. Scherf berichtet von Feuerwehrleute aus Niedersachsen welche eine alte Feuerwache zu einem Wohnprojekt umgebauten. In der Nähe von Bielefeld entstand aus einer Ruine bzw. einem Schandfleck im Ort ein wahres Schmuckstück. In Bochum, mitten in der Stadt, wurde ein alter Werkhof der Müllabfuhr umgebaut. Durch die sog. Claudius-Höfe, ein integratives Mehrgenerationen-Wohn‐Lebens- und Arbeitsprojekt sei ein ganzer Stadtteil wieder aufgelebt. Noch viele andere positive Best-Pratice-Beispiele zählt Scherf auf und macht deutlich, dass sowohl im städtischen, als auch im ländlichen Gebiete Wohnprojekte ihre teilweise auch ungeahnte positive Wirkung entfalten können. Zum Beispiel entstünden im Zuge von Wohnprojekt oft neue Läden, regionale Vermarktungsstukturen, Fahrdienste oder neue ärztliche Versorgungsstrukturen. Hier und da würden auch Flüchtlinge in Wohngemeinschaften mit aufgenommen. „Die Integrationskraft des Freistaates Bayern ist größer als Seehofer denkt“, erklärt der bekennende Sozialdemokrat schmunzelnd.

Denen, die sich vielleicht auch in der Region Schweinfurt auf die Reise ins Alter und zu einem besonderen Wohnprojekt machen wollen rät er: „Suchen Sie Verbündete – überzeugen Sie andere, dass Sie es ernst meinen, mit Ihren Ideen und Überlegungen. Örtliche Sparkasse oder andere Kreditgebern müssen darauf vertrauen können, dass Ihr Projektkplan funktioniert. Sprechen Sie mit regionalen Wohlfahrtverbänden, Sozialstationen etc.“ Der aktuelle Niedrigzins biete derzeit ideale Voraussetzungen zur Kreditfinanzierung von Wohnprojekten. Das „Forum Gemeinschaftliches Wohnen e.v. “ in Hannover, die Stiftung Bürgermut und das Netzwerk Soziales Neues Gestalten empfiehlt Scherf als richtige Adresse für jene, die den Aufbau eines Wohnprojektes in Angriff nehmen wollen und auf der Suche nach Information, Beratung und Netzwerkpartnern sind. „Bleiben Sie dran an eigenen Wünschen, Vorstellungen und Visionen, machen Sie sich auf die Reise, dann werden Sie ankommen“. Scherfs Ermunterung zum Aufbruch werden viele Zuhörer an diesem Abend mit nach Hause genommen haben.

 

Hilfreiche Internet-Adressen für die Wohnprojekt-Planung:

http://www.wohnprojekte-portal.de/projekte-suche.html

https://www.bielefeld.de/de/pbw/muw/muwgemei/

http://claudius-hoefe.mcs-bochum.de/

http://www.fgw-ev.de/

http://www.buergermut.de/28-0-Netzwerk-Soziales-neu-gestalten-Song.html

 



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